Identitätspolitik & Religion – Verbindungen & Gemeinsamkeiten
Identitätspolitik ist inzwischen fest an Universitäten und in den Medien etabliert, unterminiert wissenschaftliches Denken und zeigt deutlich religiöse Züge. Zum Beispiel einen ausgeprägten Manichäismus. Höchste Zeit also, dass Religionskritik sich dem Thema annimmt. An dem von Freidenken-Winterthur organisierten Vortrag am 18. September 2024 habe ich 11 Gemeinsamkeiten zwischen Identitätspolitik und Religion vorgestellt. Hier eine kurze Zusammenfassung.
Martin Koradi
«Die Zunahme der Identitätspolitik in modernen liberalen Demokratien ist eine ihrer Hauptbedrohungen. Wenn es uns nicht gelingt, zu einem universalen Verständnis der menschlichen Würde zurückzukehren, werden wir zu ständigen Konflikten verurteilt sein.» (Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in «Identität», 2019)
► Identitätspolitik und Universalismus sind gegensätzliche Konzepte für den Kampf gegen Diskriminierung von Minderheiten. Dieser Vortrag plädiert für Universalismus und sieht die Identitätspolitik kritisch.
► Universalismus lässt sich am kompaktesten erklären an einem Zitat des Bürgerrechtlers Martin Luther King (1929 – 1968):
«Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden.»
► Identitätspolitik führt zu Spaltung der Gesellschaft in eine unterdrückerische, rassistische und sexistische Mehrheitsgesellschaft und unterdrückte Minderheiten. Und zu Spaltung der Mehrheitsgesellschaft in Bereuende und Renitente. Und zu Aufteilung der Minderheiten in eine Opferhierarchie
► Identitätspolitik führt zu Spaltung der Welt in einen unterdrückerischen, rassistischen und sexistischen Westen und einen unschuldigen, unterdrückten «globalen Süden»
Basis ist ein scharfer Manichäismus.
Es gibt elf Gemeinsamkeiten zwischen Identitätspolitik und Religion
(Wobei nicht jeder dieser Punkte sich in allen Bereichen der Identitätspolitik zeigt)
► radikaler Manichäismus (Perser Mani, 216 – 276/277, gründet Offenbarungsreligion).
Gut-Böse-Spaltung: Böse Unterdrücker versus potenziell unschuldige Unterdrückte innerhalb westlicher Gesellschaft und weltweit (Westen versus Globaler Süden).
► Ketzerjagd wie in manchen Religionen
Auffallend ist die Forderung nach Toleranz für sich selber bei maximaler Intoleranz für Gegenpositionen (Shitstorms, Diffamierungen, Canceln, Zerstörung von bürgerlicher und sozialer Existenz). Abweichler im eigenen Lager werden exkommuniziert.
Beispiele von gecancelten Personen: Philosophin Kathleen Stock, Biologin M.-L. Vollbrecht, Evolutionsbiologin Carole Hooven.
► Erbsünde / Erbschuld
Christliche Erbsünde betrifft alle Menschen wegen Sündenfall im Paradies (Adam & Eva). Trennt Menschen von Gott, Verbindung kann mit Hilfe von Jesus wieder hergestellt werden.
Erbschuld der Identitätspolitik betrifft dagegen nur Weisse: Alle Weissen sind Rassisten unabhängig davon, ob sie rassistisch handeln. Nur Weisse sind Rassisten. Es gibt keinen Rassismus gegen Weisse.
Im Gegensatz zur Jenseitsreligion Christentum bietet IP / Wokeismus als Diesseitsreligion keinen Weg der Vergebung / Reinwaschung.
► Schuld, Scham, Buss- und Läuterungsrituale
Bei Verstoss gegen IP-Regeln reicht Entschuldigung nicht, man muss sich quasi öffentlich in den Staub werfen. Selbstbezichtigungen ähneln stalinistischen Schauprozessen (wenn auch ohne Todesurteile). Antirassismus-Seminare mit ritualisierten Schuld– und Bussbekundungen.
► Erwähltheit
Erleuchtete versus Nicht-Erleuchtete ähnlich wie in Gnosis (2. & 3. Jahrhundert n.u.Z.). Woke (aufgewachte) Aktivisten durchschauen Zusammenhänge wie strukturellen Rassismus. Ähnlich wie evangelikale Erweckung oder «Redpilling» bei Verschwörungstheorien. Buchtipp: «Die Erwählten» von John McWhorter.
► Absolute Wahrheiten
Identitätspolitik basiert stark auf postmodernen Theorien, die relativistisch sind und die Existenz von Wahrheit und begründetem Wissen in Frage stellen. Die Wahrheit der eigenen Vorstellungen wird aber vorausgesetzt.
Religionen sehen Gott als absolute Quelle von Wissen und Wahrheit. Identitätspolitik verlegt diese Instanz ins Innere des Menschen:
- Gefühle als unhinterfragbare Instanz: Wenn ich mich als Frau fühle bin ich eine Frau.
- Subjektiver Verletztheitsbegriff: Wenn ich mich verletzt fühle, wurde ich verletzt.
Argumente haben keinen Stellenwert mehr.
► Reinheitsphantasien
Viele Religionen kennen Reinheitsvorschriften (z. B. Speisevorschriften, rituelle Waschungen). Bei den Katharern, wörtlich ‚die Reinen‘ (12.-14. Jhd.) steht die Reinheit schon im Namen. Im Kontext von Wokeness & Identitätspolitik gibt es viele Bestrebungen, öffentlichen Raum von Unerwünschtem, Störendem, oder von Vermischungen reinzuhalten. So gibt es eine immer länger werdende Liste von Wörtern, die nicht verwendet werden dürfen. Triggerwarnungen und Safe Spaces ermöglichen es, Herausforderungen auszuweichen und Widersprechendem aus dem Weg zu gehen. Cancel Culture führt dazu, dass als feindlich markierte Stimmen aus dem öffentlichen Raum gedrängt werden – z. B. wenn ein Vortrag wegen Drohungen nicht stattfinden kann. Auch der Vorwurf der «Kulturellen Aneignung» kann Reinheitsvorstellungen fördern, indem sie Vermischung von Kulturen tabuisiert.
► Dualismus
Dualismus, also die Vorstellung, dass der Geist oder die Seele des Menschen getrennt vom Körper existieren könne, ist Bestandteil zahlreicher Religionen und Voraussetzung für die Vorstellung, dass wir nach dem Tod weiter existieren in Form einer immateriellen Seele. Sie ist auch Voraussetzung für die Vorstellung, dass Wesen existieren können, die Geist ohne Körper sind – zu Beispiel Dämonen, Elfen, Götter.
Dualistische Vorstellungen sind also eng mit religiösen Vorstellungen verknüpft. Dualismus spielt nicht in allen Bereichen der Identitätspolitik eine Rolle, im Transaktivismus allerdings schon. Die Überzeugung, ein Mensch könne im falschen Körper geboren werden, ist ausgesprochen dualistisch. Da gibt es einen Körper, und irgend etwas Immaterielles wie eine Gender-Seele, die in einen Körper einfährt, und dabei falsch abbiegen kann.
► Transsubstantiation (Wesensverwandlung)
Damit wird in der katholischen Theologie die Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi während der Heiligen Messe bezeichnet.
Hintergrund:
Die aristotelische Unterscheidung zwischen der Substanz = das nicht sinnlich wahrnehmbare Wesen eines Dinges (nicht identisch mit naturwissenschaftlichem Substanzbegriff), und der Akzidenz = das nicht Wesentliche, sich Verändernde, Zufällige und sinnlich Wahrnehmbare. Akzidentien haften der Substanz an, gehören jedoch nicht zu deren wesentlichen oder notwendigen Bestimmungen.
Der «Leib Christi» erscheint auch nach der Wandlung den Sinnen weiter als Brot, das «Blut Christi» weiter als Wein, aber die Substanz, das Wesen, hat sich nach katholischer Auffassung gewandelt.
So auch in der Transgender-Ideologie. Laut Judith Butler ist der Sprechakt seinsschaffend, daher bewirkt die Aussage «Ich bin eine Frau», dass ein Mann zur Frau wird.
Die Idee, dass Sprechakte seinsschaffend sind, kommt im Übrigen schon in der Schöpfungsgeschichte vor: Gott schuf die Welt in sechs Tagen und er schuf sie durch das Wort. Judith Butler steht da also in einer sehr alten religiösen Tradition.
► Moralismus
Tugendsignale (z. B. Gendern, Pronomen, Regeln der Identitätspolitik einhalten) → man zeigt sich als guter Mensch, es sind aber billige Signale, die wenig kosten und mehr Symbolcharakter haben, während echtes Engagement kostet (Geld, Zeit).
Moral ersetzt Argumente und dient der Diffamierung Andersdenkender.
► Missionierungsdrang
IP-Aktivismus zeigt hohen Missionierungsdrang, aber nicht wie z. B. Zeugen Jehovas (Hausbesuche, auf der Strasse stehen), sondern durch Selbstinszenierung in Sozialen Medien. Predigen gegen innen → erhöht Status in der Gruppe. Missionierung festigt eigenes Lager, bekämpft Verunsicherung durch Andersdenkende, dient der Selbstvergewisserung.
IP-Aktivismus missioniert auch in Schulen, Firmen und NGOs.
Fazit: Es ist wichtig, den Universalismus der allgemeinen Menschenrechte gegen die Spaltereien und Relativismen der Identitätspolitik zu verteidigen. Universalismus ist auch eine unverzichtbare Basis für Religionskritik.
Quelle plus weitere Ausführungen zum Thema & Quellenangaben:
Was Identitätspolitik mit Religion verbindet (Pro-Demokratie.Info)
Weitere Texte zum Thema Identitätspolitik:
https://pro-demokratie.info/?s=Identitätspolitik
Facebook-Gruppe «Kritisches Netzwerk Identitätspolitik»: https://www.facebook.com/groups/979082433551697
Martin Koradi, 18. September 2024